Das Grosse Evangelium Johannes: Band 11
Lehren und Taten Jesu während Seiner drei Lehramts-Jahre
- Kapitel 2 -
Die Absicht der Pharisäer
Als wir am andern Morgen erwachten, hörten wir vom Wirte alsbald, daß die gestrigen Ankömmlinge - keineswegs zufrieden damit, nicht Antwort direkt von uns erhalten zu können, wer wir seien - versucht hätten, die Diener des Hauses auszufragen, woher uns unser Weg geführt habe, und wer wir denn so eigentlich seien. Vornehmlich waren es die drei Pharisäer, welche in diesen Fragen etwas herrisch auftraten, gewohnt, gleich alles in Ehrfurcht vor sich ersterben zu sehen. Da war aber der erste Knecht des Hauses - auch ein Römer und früherer Waffengefährte unseres Wirtes -, der Marcius hieß und ihnen ihre neugierigen Fragen so echt römisch kurz abwies, daß sie höchst ärgerlich sich zurückzogen und gesonnen waren, ob dieses groben Knechtes bei seinem Herrn eine rechte Beschwerde zu führen.
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Wir nahmen unser Morgenmahl in dem Saale ein, in dem wir geruht hatten, und konnten also genau hören, was in dem nebenanliegenden Zimmer, das uns am gestrigen Abend zur ersten Unterkunft diente, verhandelt wurde. Unser Wirt war zu den dreien daselbst eingetreten, um sich nach ihren Wünschen zu erkundigen, und diese Gelegenheit benutzte einer von ihnen, um seinem angesammelten Ärger so recht Luft zu machen.
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Der Wirt hörte ihre Beschwerde mit Ruhe an und sagte sodann ohne jeden Zorn in seiner Rede: ,,Was ihr saget, kann ich nur insofern als gerecht erkennen, als mein Marcius euch in wohl etwas zu scharfer Weise zur Ruhe verwiesen hat, indem, wie ihr sehr wohl wisset, ihr nicht die einzigen Gäste in diesem meinem Hause seid. Mein Haus ist eine Unterkunft für jedermann, und ich kann nicht etwa für die Bürger von Jerusalem oder gar für die Mitglieder des Hohen Rates eine besondere Ausnahme meiner Hausordnung machen; denn dieses Haus ist gut römisch, und es hat sich demnach auch ein jeder, der dessen Schutz genießen will, nach seiner Ordnung zu richten, ansonst es ihm freisteht, eine andere Herberge zu suchen. Ihr aber habt noch spät in der Nacht eifrig disputiert, ohne euch darum zu kümmern, ob dadurch die Nachtruhe anderer gestört werde, und schließlich sogar angefangen, meine Leute, die der Nachtruhe gerade sehr bedürfen, zu euch zu rufen und sie auszufragen, bis eben Marcius euch diese Übergriffe kurzweg verwies. Es hätte das wohl etwas höflicher geschehen können, aber daß es geschehen, darum kann ich ihn nicht tadeln."
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Nahm der gestrige Sprecher () wieder das Wort: ,,Daß du ein ganz besonderer Freund deiner gestrigen Gäste bist, habe ich schon zur Genüge erfahren; aber ich denke, wir gelten doch auch noch etwas und können verlangen, höflich behandelt zu werden, wie es sich gegenüber Männern unseres Ansehens und Standes denn doch schickt. Aber sei dem nun schon, wie dem wolle - denn ich habe schon gestern erfahren, wie du uns gesinnt bist, so daß wir schwerlich von dir unser Recht erhalten werden -, sage du uns, wer denn so eigentlich die nicht kleine Gesellschaft ist, welche sich gestern in diesem Saale befand, und wer ihr Wortführer, mit dem du dich besprachst!"
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Antwortete der Wirt: ,,Dieses euch zu offenbaren, bin ich nicht befugt. Wollt ihr es wissen, so fragt ihn doch selbst! Er ist noch mit der ganzen Gesellschaft in meinem Hause und wird euch sicherlich bei einer Anfrage mit einer Antwort dienen."
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,,Das ist es ja, was ich vermeiden will", sagte der Pharisäer, ,,denn ich habe wohl gemerkt, daß er alle deine wenig höflichen Reden, welche du über das jüdische Volk und seine Lehrer von dir gabst, völlig zu teilen schien, - wenigstens hat er dir in keiner Weise widersprochen, sondern vielmehr oftmals zugestimmt, wie wir aus einigen wenigen aufgefangenen Bemerkungen wohl vernommen haben. Trotzdem schien uns aber aus seiner Rede eine Fülle von verborgener Weisheit hervorzuleuchten, die uns die Frage nahelegt, wer und was er sei, ob er etwa den bewußten Galiläer selbst kenne, ihn gesehen oder gar selbst ein Jünger von ihm wäre.
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Wir wissen gar wohl, daß dieser sogenannte Messias, der nichts weiter als ein Zimmermannsgeselle aus Nazareth ist, schon des öfteren Jünger aussandte, die sodann auch Wunder gewirkt haben sollen, und sind nun auch mit diesen unseren Freunden, welche Kaufleute sind und von Jerusalem über Jericho nach Petra ziehen wollen, ausgezogen, um selbst so einige Nachrichten einzusammeln, wie weit denn dieser Unfug schon gediehen ist, das Volk gegen uns und den Tempel aufzuhetzen; denn der Hohe Rat in Jerusalem ist keineswegs gesonnen, noch weiterhin zuzulassen, daß sein Ansehen geschmäht werde von einem Menschen, der seine Zauberkünste für Werke des Gottesgeistes und sich selbst für einen Sohn des Höchsten ausgibt, wie es unglaublicherweise schon des öfteren geschehen ist.
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Ich sage dir das, mein lieber Wirt, damit du etwas weniger Partei für jenen Menschen nimmst und dich nicht mitschuldig machest an dem Wirken jenes Volksaufwieglers, das dann auch für dich recht schlechte Früchte zeitigen würde; denn noch hat der Rat und das Tempelgericht in Jerusalem Rechte und Kraft genug, seine Gegner zu besiegen. Solltest du also zufällig wissen, wo sich jener Galiläer befindet, oder solltest du es durch jenen uns recht weise scheinenden Gast erfahren können, so würdest du uns einen großen Dienst erweisen und auch völlig versichert sein können, daß wir dir in keiner Weise dein heftiges und uns recht beleidigendes gestriges Wesen, sowie das deines Knechtes, nachtragen werden."
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Nach dieser längeren Rede des Pharisäers wäre unser Wirt, der Mich im Herzen schon längst erkannt hatte, am liebsten so recht über die drei hergefallen.
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Ich ermahnte ihn jedoch im Innern, so daß er schwieg und in aller Gemütsruhe sagte (): ,,Ja wenn ihr mir im Ernste beweisen könnt, daß jener Galiläer ein Volksaufwiegler, womöglich gegen die Herrschaft Roms ist, so stehen die Sachen ja ganz anders, und ihr könnt überzeugt sein, daß ich alles tun werde, um einen solchen schlimmen Feind Roms unschädlich zu machen. Mir scheint es jedoch wesentlich anders zu sein, und wir müssen daher über diesen Fall da doch recht ernstlich reden."
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Der Pharisäer fing nun an, zutraulich zu werden, forderte den Wirt auf, sich zu ihm zu setzen - eine nach seiner Meinung unerhörte Ehre - und begann nun, alle die bekannten und schon oftmals angeführten pharisäischen Spitzfindigkeiten herzuerzählen: daß Ich die Schrift nicht achte, Moses und den Alten Bund umzustoßen gedächte, kurz, Mich zu einem König der Juden aufzuschwingen gedächte, damit die Herrschaft der Römer vernichtet würde.
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Der Wirt hörte sich alles mit größter Gelassenheit an und sagte sodann, er wolle sich Rates bei seinem weisen Gaste holen und werde dann zu ihnen wiederkehren. Die Pharisäer, sowie auch die Kaufleute, unter denen sich einer befand, der bei der Reinigung des Tempels sich als Geldwechsler befunden hatte, waren über den scheinbaren Umschwung der Stimmung des Wirtes recht zufrieden und entließen ihn mit gnädigen Blicken.