Die Drei Tage im Tempel
Gespräche des zwölfjährigen Jesus
- Kapitel 24 -
Die Rede Jorams über das Wesen Gottes als Antwort an den römischen Richter
Diese scharfe Anrede des Richters hatte unsere Templer aus aller Fassung gebracht und sie in einen großen Schrecken versetzt, so daß sie nur zu stottern statt zusammenhängend zu reden vermochten. Der Gefaßteste war Joram, er erhob sich denn auch von seinem Stuhle, verneigte sich tief vor dem Richter und sagte dann:
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(Joram:) ,,Hoher, gestrenger und gerechtester Gebieter und Richter über ganz Jerusalem und noch sehr weit darüber hinaus! Es ist bei uns um den wahren Begriff von dem Wesen Gottes eine schwere Sache, indem es im Moses ausdrücklich verboten ist, sich irgendeinen faßlichen Begriff oder irgendeine nur halbwegs bildliche Idee von Ihm zu machen! Du wirst darum in unserm Tempel kein Bild finden, durch das für die menschlichen Außensinne sich von der Gottheit ein anschaulicher Begriff machen ließe!
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Trotzdem aber haben doch die Väter - als Abraham, Isaak und Jakob - zu öfteren Malen Gesichte gehabt, in denen sie Gott stets in einer vollendeten Menschengestalt sahen und sprachen, obwohl es im Moses später heißt: ,Gott kann niemand sehen und leben zugleich; denn Gott ist ein verzehrend Feuer und wohnt im unzugänglichen Lichte!`
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Aber Moses verlangte dennoch einmal Gott zu sehen, wenn ihm das auch den augenblicklichen Tod gäbe. Da aber sprach am Sinai Gott zu Moses: ,Verbirg dich in dieser Grotte, Ich werde da vorüberziehen! So Ich dich rufen werde, da tritt aus der Grotte, und du wirst Meinen Rücken sehen!`
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Ja, jetzt, wo es sich bald um eine Form Gottes und bald wieder, sogar streng gesetzlich, um gar keine mehr handelt und eigentlich bei Strafe nicht handeln darf, da wird eine Ideefassung und Begriffmachung von einem Gotte wahrlich etwas schwer oder mit der Zeit schon gar nicht mehr möglich, obwohl das menschliche Gemüt sich dennoch nach einem formellen Gotte sehnt und man es streng genommen den Heiden gar nicht so sehr übelnehmen kann, daß sie sich ihren Zeus als einen vollkommensten Menschen bildlich vorstellen! Wir haben nur das Wort ,Jehova`, darüber hinaus gibt es nicht viel mehr!
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Was mich, bloß als Menschen, anbelangt, da ist mir, wie dir, dieser Knabe als ein Gott ganz gut und mächtig zur Genüge. Aber nun bedenke du das Volk, das an der Lehre Mosis und der Propheten hängt! Der Tempel ist der alte Mittelpunkt seiner Beseligung, dahin trägt es seine Wünsche, seine Hoffnungen und glaubt sich im Tempel seinem Gotte nahe, allwo es dieser vernimmt durch das Ohr des Hohenpriesters und es erhört durch die Gebete desselben und seiner Gehilfen! Nimm das auf einmal dem Volke weg und stelle an die Stelle der Bundeslade diesen göttlichen Knaben, und du hast ehest die allgemeine Revolution im ganzen Lande!
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Wir sind Narren, weil wir es zu sein genötigt sind. Wäre das nicht der Fall und hinge nicht unser Leben und des Volkes Wohlfahrt und Ruhe davon ab, so wären wir schon lange keine Narren mehr! Oder meinst du, daß es gar so ein leichtes ist, dem Volke etwas als seiend vorzustellen, das nicht ist und von dem man sich sogar beim besten Willen keinen Begriff machen kann?!
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Ich für mich halte dasselbe vom Knaben, was du hältst. Aber vor dem Volke muß ich dessenungeachtet die alte Narrheit forttreiben und von dem nicht die leiseste Spur merken lassen, daß ich innerlich ganz einen andern Glauben habe, als den ich äußerlich zur Schau trage!
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Sollte es der Macht des Knaben mit der Zeit gelingen, das Volk, wie nun uns, auf sich aufmerksam zu machen, und daß es ihn als das erkennt und annimmt, was er ist, dann wird er mit dem ganzen Tempel leicht fertig werden. Aber eine alte Sache, an der sich gar so viele Interessen kreuzen, ist nicht beiseite zu schieben wie ein alter Schrank, den man leicht ohne allen Anstand wegwerfen und vernichten kann und stellen einen neuen an seine Stelle.
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Das ist meine Ansicht, die sicher der ganze Tempel mit mir teilt, und ich glaube kaum, daß mir da jemand eine Widerrede geben wird!"
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Sagte der Richter: ,,Ja, gegen diese Ansicht läßt sich vorderhand freilich wenig oder nicht viel einwenden. Aber eines kann dabei immerhin bemerkt werden, und das besteht darin: Ihr - so ihr glaubt an des Knaben Sendung - könnet doch immerhin das Volk auf den Knaben auf eine geeignete Weise aufmerksam machen und zeigen, was nun in die Welt gekommen ist?!"
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Sagte der Joram: ,,Diese Forderung gehört offenbar zu denen, die man billig nennen kann, und es wird sich darin vielleicht auch etwas tun lassen! Aber es wird das immer ein sehr gewagtes Unternehmen sein, das uns und dem guten Knaben recht viele Verlegenheiten bereiten dürfte!
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Denn fürs erste bleibt der Knabe sicher nicht im Tempel, da er etwa heute oder ganz gewiß morgen von seinen Eltern wieder nach Nazareth geführt wird, das von hier doch ein wenig zu entfernt ist, um alle nach ihm Fragenden dahin zu senden.
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Fürs zweite aber würden Hunderttausende uns ernstlich nach dem Grunde zu fragen anfangen, warum er als der, als welcher er durch den Propheten verkündet ist, nicht in dem ihm allein gebührenden Hause, das da eben der Tempel ist, Wohnung nehme!
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Und was könnten wir da dem Volke für einen Grund angeben, aus dem er Galiläa und Nazareth der Stadt Gottes vorziehe? Bald würde das Volk sagen: ,Stadt und Tempel müssen sich etwas Großes zuschulden haben kommen lassen; die Sache muß untersucht und gesühnt werden!`
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Kurz und gut, wir könnten es anstellen, wie wir auch nur immer wollten, so würden wir im Volke eine große Erregung wachrufen, die uns gar viel zu schaffen machen würde. Daher, meine ich, dürfte es hier immerhin geratener sein, vorderhand dem Volke davon beinahe keine Erwähnung zu machen, sondern die Sache ganz dem Knaben und der Zeit selbst zu überlassen!
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Was denn auch kommen möge, wir wenigstens werden darauf schon durch diesen dreitägigen Akt vorbereitet sein und werden uns selbst noch besser und tiefer vorbereiten können! - Übrigens wolle nun der Knabe selbst reden und bestimmen, was er haben will, denn seinem Willen wird sich's schwer zu widersetzen sein!"