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Do, 8. Nov 2012 um 13:31 MEZ
von Hans-Peter Dannenberg
Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen wollen!
"Überwinde alles das was dich daran hindern will, deine selbstgesteckten Grenzen zu überschreiten. Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen. Vertreibe die Kälte, die dein Herz erstarren ließ, deinen Geist, den Geist aus mir, lähmt und zur Tatenlosigkeit verdammt. Nur hinter dem Horizont wirst du mich finden. Oh wie lange schon warte ich auf dich."
Die folgende kleine Geschichte, nimmt Bezug dazu.
Hans-Peter
Seit Kurzem beschleicht mich ein seltsames Gefühl. Eine Art Sehnsucht, wie ich sie seit den Tagen meiner Kindheit, in dieser Tiefe und Intensivität, nicht mehr verspürt hatte. Eine sanfte Wärme durchzieht mein Herz. Wie früher als ich noch lange nach dem zu Bett gehen, wach gelegen hatte und mich meinen Gedanken hingab. Ich träumte von fernen Ländern, in die ich später als Erwachsener reisen wollte. Ich träumte von kostbaren Schätzen, von alten Mauern untergegangenen Kulturen und versunkenen Städten, die ich der Menschheit zurückzugeben gedachte. Mein sehnlichster Wunsch war es damals, Archäologe zu werden. Und mein Wunsch wurde Wirklichkeit. Im Verlauf vieler Jahre wurde mein Wissen größer. Ich bemerkte dabei nicht, dass dafür mein Gefühlsleben um so mehr abnahm. Ich sezierte meine Umwelt und die Menschen aus meiner näheren Umgebung, mit dem Skalpell meines Verstandes und teilte sie in für mich wertvoll oder unnütz ein. Gewiss, ich war nicht unfreundlich zu ihnen doch Freundschaft – ich meine richtige Freundschaft – empfand ich für niemanden. Mein Verstand übernahm mein Leben. Ich war sogar froh darüber, dass ich nicht wie andere war. Ich sonnte mich in dem Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Ich war auf niemanden angewiesen – zumindest erweckte ich auf andere den Eindruck und ich pflegte dieses Image sogar.
Meine Einstellung veränderte sich erst vor einigen Tagen. Ich suche neuerdings sogar die Nähe anderer Menschen. Doch das ist für mich nicht so einfach, wie es sich anhört. Ich bin gerade dabei mich, um ein Beispiel zu nennen, zu häuten. Ich versuche, meine alte Haut abzustreifen. Meinen Panzer zu zerbrechen. Dieses warme Gefühl in meinem Herzen ist daran schuld. Dieser neue beziehungsweise dieser alte Gemütszustand, den ich als Kind so oft empfand, hat sich wieder eingestellt. Dem allen war natürlich etwas vorausgegangen …
Unsere archäologischen Ausgrabungen in der alten jüdischen Festung Masada waren von meinem Team vor einigen Wochen, im Auftrag der UNESCO, begonnen worden. Masada sollte das Prädikat Weltkulturerbe erhalten. Bekanntlich zogen sich um 70 n. Chr. 973 aufständische Juden, nach der Zerstörung ihres Tempels durch die Römer, in die von Herodes dem Großen, um 30 v. Chr., erbaute Festung zurück. Die damals aufgrund ihrer besonderen geografischen Lage, als uneinnehmbar galt.
Drei Jahre belagerte der Befehlshaber der X.-Legion, Flavius Silva, mit 15 000 Mann Masada und nahm die Festung schließlich ein. Noch heute sind die Reste der vier Kilometer langen Mauer und der ehemals hundert Meter hohen Rampe zu sehen, die Silva errichten ließ. Als die Römer das Plateau der Festung erobert hatten, fanden sie jedoch nur noch zwei Frauen und fünf Kinder lebend vor. Alle anderen hatten, um nicht den Römern in die Hände zu fallen, den Freitod gesucht.
Masada war schon häufiger von Archäologen besucht worden und man glaubte bisher, nichts Neues mehr entdecken zu können. Wissenschaftlich gesehen mag das zutreffen, doch was ich hier vor Kurzem fand, gab mir einiges von dem zurück, das ich glaubte, unwiederbringlich verloren zu haben.
Um überleben zu können, hatten die Aufständischen Unmengen von Lebensmitteln gelagert. Auch über zwölf Zisternen und den damit vorhandenen lebenswichtigen Trinkwasserreserven hatten sie verfügen können. Auf dem Grund einer der seit Jahrhunderten bereits ausgetrockneten Zisternen hatte ich einen verschlossenen Krug gefunden. Es stellte sich heraus, dass das Tongefäß einen Papyrus enthielt. Eine Art Tagebuch, dass ein gewisser Josef verfasst hatte.
Er beschrieb jeden Tag seines Daseins in der Festung, nachdem die Römer mit der Belagerung begonnen hatten. Das Dokument enthält einige wichtige Fakten, die vorher nicht in dieser Deutlichkeit bekannt gewesen waren. Was mich jedoch sehr berührte, war die Geschichte, die Josef in seiner Kindheit erlebt hatte. Diese Geschichte hat mir meine Kindheit und mein Herz wieder gegeben. Ob Josef die Worte selbst schrieb oder sie aufschreiben ließ, geht aus dem Dokument nicht hervor. Doch das ist, glaube ich, auch nebensächlich.
Josef schrieb einen Tag vor dem Fall der Festung, dass er sterben würde. Ein Pfeil hatte ihn verletzt, als die Römer Rammböcke und anderes Kriegsgerät, auf der von ihnen erbauten Rampe, an die Mauern der Festung heranbrachten und diese Aktion durch einen Pfeilhagel, decken ließen.
Josef wusste, als er sein Ende nahen fühlte, dass am nächsten Morgen Masada genommen werden würde. Und er hoffte, dass die Geschichte, die er als Junge erlebt hatte, für die Nachwelt erhalten blieb.
Seine Erzählung beginnt mit den Worten: „Die Wunde hat endlich aufgehört zu bluten. Ich bin jedoch sehr geschwächt und fühle den Tod nahen. Doch ich freue mich, da ich weiß, dass ich IHN wiedersehen werde. Den König der Könige, der da herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Hier und in Seinem Reiche, das nicht von dieser Welt ist. Morgen wird der Tod reiche Ernte halten. Ich habe alles versucht, um sie davon abzuhalten. Doch niemand wollte auf mich hören. Eleazar ben Ya´ir, der Anführer der Zeloten, hat durch Los bestimmen lassen, wer von den Wehrfähigen, den Akt der Selbstvernichtung durchführen wird. Oh diese blinden Toren. Sie haben nicht begriffen, dass dieser Krieg die Folge eines Frevels ist, der mein Volk durch die Jahrtausende verfolgen wird. Sein Blut komme über uns, hatten diese Narren damals geschrien, als Pilatus sie fragte, ob sie wirklich das Leben eines Unschuldigen opfern wollten, nur um den Zeloten und Mörder Barrabbas freizubekommen. Das unschuldige Blut jenes Mannes wird über mein Volk kommen, das ist so sicher, wie das immer wiederkehrende Passahfest beim ersten Frühlingsvollmond. Vielleicht wäre meinem Volk für die Zukunft viel Leid erspart geblieben, wenn sie sich den Römern auf Gnade oder Ungnade ergeben hätten. Doch auch hier hat der Hochmut wieder gesiegt. Sie wollen lieber als freie Juden sterben, als den Weg in die Sklaverei oder Schlimmeren anzutreten. Für sie wäre dieser Weg allemal besser gewesen, als das, was sie sich durch ihren Freitod an selbst gewähltem Schicksal aufgebürdet haben.
Ich halte meine Augen geschlossen und sehe wieder die karge Landschaft vor mir, in der meine Eltern und Verwandten, als Viehhirten lebten. Wir waren Nomaden und unser einziger Reichtum war das Vieh, das wir besaßen. Ich erinnere mich an jenen Tag und höre meinen Vater sagen: „Es ist zu klein Josef, zu schwach! Wir können es nicht gebrauchen“! Ich wischte mit dem Ärmel über mein nasses Gesicht, damit mein Vater meine Tränen nicht sehen konnte. „Heißt das, dass wir es zurücklassen müssen, Vater“?, flüsterte ich traurig. Vater nickte nur und wandte sich ab. Auch er war betrübt, denn der Verlust eines Jungtieres, war fast nicht mit Gold aufzuwiegen. Vor uns stand zitternd ein Eselfohlen auf seinen wackeligen Läufen, die immer wieder vor Schwäche einknickten. Drängend stieß das Kleine hungrig mit dem Mäulchen, gegen das Gesäuge seiner Mutter, die tot auf dem steinigen Wüstenboden lag.
Seit dem gestrigen Tag hatten mein Vater Ahab und ich, nach der vermissten Eselstute gesucht. Sie hatte sich von der Herde abgesondert um ihr Fohlen zur Welt zu bringen. Das war nichts Ungewöhnliches. Wir waren deshalb mit unseren Zelten und der Vieherde langsam weitergezogen. Als am Abend die Eselin mit ihrem Jungen immer noch nicht den Anschluss an die Herde gefunden hatte, machten sich Vater und ich auf, um sie zu suchen. Tags darauf hatten uns die Geier zu der Stelle geführt, an der die Stute von einem Raubtier angefallen und gerissen worden war.
„Wahrscheinlich hat sie versucht ihr Junges zu verteidigen“, flüsterte Vater. Ich sah ihn an und spürte, dass er mich trösten wollte. Er wirkte, wie immer, sehr ruhig und gefasst. Doch die kleine Falte zwischen seinen Augenbrauen war mir nicht entgangen. Ich wusste, dass ihm das Schicksal des Fohlens keinesfalls egal war, wenngleich seine Gründe andere waren als die Meinigen: „Wenn wir es zurücklassen Vater wird es ebenfalls von Raubtieren getötet. Der Tod seiner Mutter wäre dann vergebens gewesen!“
Vater schwieg eine Weile. Er wägte für und wider seiner Entscheidung ab. Dann fuhr er mir sanft mit der Hand durch das Haar und sagte: „Das Vieh lebt in der Ordnung Gottes Josef. Nichts geschieht ohne Ursache. Bei Gott gibt es keine Ungerechtigkeit!“ Normalerweise hätte ich nicht widersprechen dürfen. Vaters Wort war unantastbar. Doch hier draußen in der Wüste waren wir allein. Deshalb wagte ich den Versuch, ihn umzustimmen. „Sieh nur Vater! Sieh es dir doch an! Es ist ein weißes Fohlen. Nicht grau oder braun wie die Anderen! Es ist etwas Besonderes. Bitte schenk es mir! Lass es mich behalten!“, bettelte ich und griff nach seiner Hand. Mein Vater schwieg lange, wie es seine Art war, bevor er antwortete: „Nun gut Josef mein Junge, wenn du es behalten willst, so sollst du es haben. Wie könnte ich dir einen Wunsch abschlagen. Du bist doch mein geliebter Sohn. Du darfst jedoch nicht traurig sein, falls es nicht überleben sollte. Suche eine andere Eselin, die ebenfalls ein Fohlen führt. Vielleicht wird es von ihr geduldet!“
Ich jubelte vor Freude. „Danke Vater!“, rief ich aufgeregt und spürte, dass mir die Röte ins Gesicht schoss. Er hob die Hand und gebot mir zu schweigen. „Du wirst es den weiten Weg bis ins Lager tragen müssen Josef. Denn es ist zu schwach und wird nicht laufen können. Wirst du das schaffen?“ Ich nickte eifrig. „Oh ja Vater! Ich bin kräftig genug. Wenn ich müde werde, dann wirst du mir doch helfen. Nicht wahr?“
Vater lächelte. Wie gut ihn sein Sohn doch kannte. Zärtlich legte er seinen Arm um meine Schultern und flüsterte: „Dein Vertrauen ist groß mein Sohn. Das und deine Liebe zu mir sind der Schlüssel zu meinem Herzen.“
Eine leichte Brise kam auf und zerzauste mein Haar. Vater kniff die Augen zusammen und beobachtete konzentriert, das weite mit rotbraunem Sand und Geröll bedeckte Land. Am Horizont flimmerte die Luft in der Hitze des Tages. Der Himmel wirkte plötzlich nicht mehr tiefblau wie noch vor wenigen Minuten, sondern hatte eine graue Färbung angenommen. Kleine Sandhosen bewegten sich über den Wüstenboden und wurden vom stärker gewordenen Wind nach Nordosten getrieben. Ein feiner, singender Ton schwang in der Luft. Das Geräusch entsteht, wenn winzige Sandkörner sich an Felsen oder anderen Gegenständen reiben. „Wir müssen uns beeilen Josef. Ein Sturm kommt auf. Lass uns dort hinter den Felsen Schutz suchen.“ Vater deutete auf eine Gruppe mächtiger Felsbrocken, die Wind und Sand abhalten würden und zwischen denen wir sicher waren. Ich bückte mich, nahm das Fohlen auf und folgte meinem Vater, der schon vorgegangen war. Ein Sandsturm in der Wüste Negev war in dieser Jahreszeit nichts Ungewöhnliches. Wir warteten von den Felsen geschützt ab, bis der Sturm abgezogen war, und machten uns dann auf den Weg zu unserem Lager.
Nach einigen Stunden erreichten wir die Zelte und wurden freudig von den anderen Familienmitgliedern begrüßt.
Wir waren ein Familienverband, der aus Ahab, meinem Vater, seinen Brüdern Jakob und Hesekiel mit deren Frauen und Kindern, bestand. Meine Onkel hatten mit ihren Frauen viele Kinder gezeugt, die Zahl meiner Verwandten stieg stetig an. Während Vater und Mutter vom Herrn nur mit mir gesegnet worden waren.
Meine Eltern, besonders jedoch meine Mutter Rachel, waren anfangs sehr traurig gewesen. Doch dann hatten sie sich damit abgefunden, sodass ihre ganze Elternliebe mir zuströmte.
Nach unserer Rückkehr bereiteten die Frauen ein Mahl zu, um unsere glückliche Heimkehr zu feiern. Nach dem Essen wollten alle wissen, was Vater und ich erlebt hatten.
Vater berichtete die ganze Geschichte. Ab und zu unterbrach ich ihn, ohne mir in meiner Freude etwas dabei zu denken. Es war natürlich unhöflich einen Älteren, zumal noch den eigenen Vater, in seiner Rede zu unterbrechen. Doch wurde mein vorlautes Geschwätz großzügig von ihm geduldet. Nur von meinen Onkeln erntete ich strenge Blicke, die mir nicht entgingen. Sie empörten sich über die Nachsicht meines Vaters. Der beruhigte seine Brüder jedoch immer wieder. Da er der Älteste war, mussten sie sich seinen Wünschen und Befehlen fügen.
Sie alle bedauerten den Tod der Eselin, war die Stute doch ein gutes Lasttier gewesen. Als sie jedoch hörten, dass ich mich des verwaisten Fohlens angenommen und den kleinen Esel den Weg zurück getragen hatte, wollte der Spott kein Ende nehmen.
„Josef!!“, riefen sie. „Wer von euch beiden ist denn der Esel? Das Fohlen oder du? Niemals zuvor haben wir davon gehört, dass ein Esel von einem Menschen getragen wurde. Umgekehrt wäre es doch richtig, oder?“
Vater ließ sie eine Weile gewähren, hob dann den Arm und unterbrach den Tumult. „Lasst den Jungen, er wird seine eigenen Erfahrungen machen und daraus lernen!“, rief er und sofort verstummten alle. Nach einer Pause rief mein Onkel Jakob, der Zweitälteste: „Nun gut so soll es sein! Ich habe eine Stute, deren Fohlen krank war, wir haben es deshalb zurücklassen müssen. Es wird der Eselin bestimmt gut tun, wenn man Josefs Fohlen an ihr Gesäuge lässt!“
Als ich das hörte, lief ich so schnell ich konnte zum Zelt meines Vaters, dort hatte ich den kleinen Esel angebunden. Das Tierchen erkannte mich sofort und kam mir, so weit es das Seil erlaubte, entgegengesprungen. Sofort barg es seinen Kopf in meiner Achselhöhle, und versuchte zu trinken. Immer wieder stupste es mich hungrig an. Um es zu beruhigen, streichelte ich das Fohlen. „Komm mit! Ich bringe dich zu deiner neuen Mutter“, flüsterte ich und trug es vorsichtig zur Herde. Dort, abseits von den Schafen und Ziegen, stand Jakobs Eselin. Ich kannte dieses Tier sehr gut. Sie war ebenso alt wie die Mutter meines Fohlens, das ungeduldig in meinen Armen zappelte, denn es witterte das volle Gesäuge der Eselin. Vorsichtig setzte ich das Füllen ab. Ohne zu zögern, lief es auf seinen Artgenossen zu. Die Stute beroch den Neuankömmling ausgiebig, stellte die Ohren auf, bleckte ihr kräftiges Gebiss und wich schnaubend einige Schritte zurück, sodass ich befürchtete, dass sie das Junge nicht annehmen würde. Doch das Kleine gab nicht auf. Immer wieder näherte es sich der Eselin, drängte sich zwischen ihre Hufe und versuchte an das prallvolle Gesäuge zu kommen. Schließlich ließ die Alte zu, dass es trank. Versonnen beobachtete ich die Esel und war schließlich beruhigt, als das Fohlen sich unter den Bauch der Stute legte und erschöpft einschlief. Die Eselin würde nun keinen Schritt mehr zur Seite weichen, bis es an der Zeit war, das Kleine zu wecken. Schützend, mit gespitzten Ohren, stand sie über dem fremden Füllen und bewachte seinen Schlaf. „Selina! Ich werde dich Selina nennen!“, murmelte ich und war in diesem Moment der glücklichste Junge der Welt. Dann ließ ich die beiden allein und ging zurück zum Zelt.
Die Monate vergingen. Selina wuchs zu einer kräftigen, weißen Eselstute heran. Je kräftiger sie wurde, desto leiser wurden die Stimmen der Spötter, um schließlich ganz zu verstummen.
Selina hing sehr an mir, so als ob sie wusste, dass ich sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Wo ich auch hingehen mochte, Selina war bei mir. Selbst nachts war sie nicht bei dem anderen Vieh in der Einfriedung, sondern schlief vor dem Zelt meines Vaters.
Unsere Sippe blieb immer nur einige Wochen an einem Ort. Wenn die Ziegen und Schafe das karge Wüstengewächs abgeweidet hatten, brachen wir unsere Zelte ab, luden unseren Hausrat auf die Lasttiere und zogen weiter. Das hatten schon unsere Vorfahren so getan.
Eines Tages, über ein Jahr war bereits seit Selinas Geburt vergangen, zog ein schweres Unwetter über der Wüste Negev auf. Wir waren nordwärts gezogen, Richtung Uvda, weil wir das Vieh in eine, in dieser Jahreszeit, fruchtbare Ebene, am Jordan führen wollten. Eine mächtige schwarze Wolkenwand hatte sich am Horizont aufgetürmt und den Tag zur Nacht werden lassen. Wir konnten die Hand nicht mehr vor den Augen sehen, so finster war es geworden. Die Dunkelheit wurde nur von grellen Blitzen erhellt, die zuckend über den Himmel rasten, begleitet von ohrenbetäubenden Donnerschlägen. Der Sturm peitschte die aus den Wolken stürzenden, gewaltigen Wassermassen. Flutwellen überschwemmten das Land und füllten die Wadis, ausgetrocknete Flussläufe, bis zum Rand. Gurgelnd und zischend schäumten die Fluten durch die sonst staubtrockenen Schluchten und rissen Sand und Geröll mit sich. Die schlammige Brühe riss auch so manches Tier, das nicht schnell genug vor der heranbrausenden Welle fliehen konnte, mit sich. Immer noch zuckten grelle Blitze vom Himmel, begleitet von Donnerschlägen, die, die Erde erbeben ließen.
Wir schrien gegen den heulenden, tosenden Sturm an. Doch der Wind riss uns die Worte von den Lippen und ließ sie ungehört in den Weiten der Wüste vergehen.
Vater und beide Onkel, versuchten so viel Vieh wie möglich vor dem Ertrinken zu retten. Es schien so, als ob die entfesselten Naturgewalten lebende Wesen wären. Riesen, die in ihrer Wut alles Leben vernichten wollten. Ich suchte verzweifelt nach Selina. Bereits Stunden vor dem Ausbrechen des Unwetters war sie verschwunden. „Wahrscheinlich hat sie irgendwo versucht sich in Sicherheit zu bringen“, dachte ich, weil ich mich beruhigen wollte. „Doch, was ist, wenn sie …“ Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. Angst schnürte mir die Kehle zu. Mein Herz hämmerte hart gegen meine Rippen. Ich hatte das Gefühl, als würde es jeden Moment zerspringen. Ich stand auf einem Felsplatea über einem Wadi, in dem schlammiges Wasser sich tosend und schäumend seinen Weg bahnte. Der Sturm versuchte mich mit aller Macht in die Fluten zu drücken. Doch eine gewaltige Kraft half mir und hielt mich auf den Beinen. Zeltstangen, Hausrat, Schafe und Ziegen, alles wurde von den ablaufenden Wassermassen mitgerissen und trieb an mir vorüber. Ich rief verzweifelt nach Selina. Immer wieder. Dann verließen mich die Kräfte. Das Letzte, was ich wahrnahm, bevor ich in eine tiefe Ohnmacht fiel, war das Tosen der Wasser und das laute Heulen des Sturmes …!
Als ich erwachte, lag ich in den Armen meines Vaters. Ihm rannen Tränen aus den Augen. Doch als er sah, dass ich aus meiner Ohnmacht erwachte, huschte ein Lächeln über sein faltiges, von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht.
„Ich danke Gott dem Herrn, dass du lebst, mein Sohn!“, rief er immer wieder.
Flehend streckte meine Mutter ihre Hände nach mir aus. „Rachel!“, schrie Vater, „Rachel unser Sohn lebt! Der Junge lebt! Wir werden dem Herrn ein Opfer bringen und ihm danken!“ Schluchzend umarmte mich Mutter und barg meinen Kopf an ihrer Brust. „Wo ist Selina?“, fragte ich mit schwacher Stimme.
„Oh du Törichter!“, rief Vater. „Wegen eines Esels hättest du beinahe dein Leben verloren! Wegen eines Esels“, wiederholte er und schüttelte verständnislos den Kopf. „Lass ihn Ahab! Erschrick ihn nicht“, bat Mutter leise und strich mir beruhigend über das Haar. Vater brummte: „Selina lebt Josef. Sie hatte sich auf eine Anhöhe geflüchtet, sei beruhigt!“ Mir war als würde eine Zentnerlast von meiner Brust genommen. Ich seufzte.
Am nächsten Tag wurde das Vieh gezählt. Das Ergebnis war niederschmetternd. Zwei Drittel der Herde waren vernichtet und ein großer Teil der Vorräte war entweder unbrauchbar oder weggespült worden.
„Was haben wir getan? Warum straft uns der Herr so grausam?“, jammerten Jakob und Hesekiel. Vater murmelte: „Es gibt keine Ungerechtigkeiten. Der Herr straft nicht, wir strafen uns selbst. Alles hat seine Ursache!“ Dann rief er seinen Brüdern zu: „Sucht mir den schönsten Bock aus der Herde, ich will den Herrn opfern!“
„Was willst du tun?“, schrien ihn seine Brüder an. „Dein Verstand ist verwirrt. Wir besitzen nur noch wenig Vieh und du willst den schönsten Bock opfern? Willst du uns vollends ruinieren?“
„Schweigt!“, gebot Vater. „Ihr seid schlimmer als Weiber mit eurem Geschwätz. Gehorcht meinem Befehl!“, rief er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Murrend fügten sich meine Onkel.
Ich erwachte, mitten in der Nacht, durch die Stimmen meiner Eltern. „Wir müssen es tun Rachel!“Hörte ich meinen Vater sagen.
„Überleg es dir noch einmal Ahab, du brichst ihm das Herz!“, antwortete Mutter. „Du weißt genau, wie sehr er an Selina hängt!“ Vater klatschte in die Hände. Das bedeutete, dass seine Entscheidung unumstößlich geworden war. „Schweig Weib! Ich wünschte ich könnte anders handeln, doch es geht nicht anders. Wir müssen den Esel verkaufen, wenn wir überleben wollen!“ Eine Weile war es still dann sagte die leise Stimme meiner Mutter: „Wann wirst du es ihm sagen?“ Vater räusperte sich: „Morgen früh! Glaub mir Rachel, mir fällt es nicht leicht, doch mir bleibt keine andere Wahl!“
Ich erschrak doch ich wusste, dass auch ich Vater nicht umstimmen würde. Leise weinend flüchtete ich mich in den Schlaf. Am nächsten Morgen hörte ich bangen Herzens Vaters Entscheidung.
„Wir werden vor die Tore Jerusalems ziehen und dort Vieh verkaufen, dass wir noch entbehren können, um neue Vorräte zu beschaffen. In einem oder zwei Jahren wird sich die Herde so weit erholt haben, dass wir wieder von ihr leben können.“
Wir zogen weiter nordwärts und erreichten eine Woche später Jerusalem. Während der Reise hatte ich gehofft, dass Vater sich noch einmal umentscheiden würde. Doch alle Bitten waren vergebens gewesen. Ich wusste, dass Vater als Anführer so handeln musste. Es blieb ihm keine Wahl, denn das Wohl unserer Sippe hatte Vorrang.
Vor der Stadt befanden sich einige Karawansereien und Gasthäuser. Uns bot sich ein lebhaftes, buntes Schauspiel. Denn es war Markttag. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Luft war erfüllt von schönen und weniger schönen Gerüchen. Händler priesen laut ihre Waren an. Menschen schrien durcheinander. Gelächter erscholl, als eine Gauklertruppe ihre Kunststücke darbot.
Vater bahnte sich, gefolgt von seinen Brüdern und den Teil der Herde, der verkauft werden sollte, einen Weg zum Viehmarkt. Auch ich war bei ihnen. Ich hatte Vater angefleht, mit dabei zu sein. Es würde mir das Herz brechen, das wusste ich. Doch wenn ich Selinas Verkauf schon nicht verhindern konnte, wollte ich die letzen Stunden mit ihr gemeinsam verbringen.
Als wir den Viehmarkt erreicht hatten, steigerte sich der Lärm noch um ein Vielfaches. Kamele, Ziegen, Schafe, Hühner, brüllten, meckerten, blökten und gackerten laut durcheinander, sodass ich, durch den Lärm völlig verschüchtert, Hilfe suchend, nach Vaters Hand griff. Ich spürte die Ruhe, die von ihm ausging, und wurde selbst auch ruhiger.
Mir saß ein dicker Kloß im Hals. Jeden Augenblick hätte ich losweinen mögen, doch ich wollte mir vor Vater und meinen Onkeln keine Blöße geben.
Vater schien zu spüren, was in mir vorging und legte ab und zu tröstend seinen Arm um meine Schultern.
Bald darauf pflockten wir das Vieh an dem uns zuggewiesenen Platz an. Kurze Zeit darauf hatten wir bereits alle Tiere verkauft. Nur für Selina hatte sich noch kein Käufer gefunden. Ruhig stand sie da und kaute an einem Büschel Disteln, den ich ihr zum Trost gereicht hatte.
Ich ließ die Stute nicht für einen Moment aus den Augen. Viele Männer hatten sich Selina bereits angesehen. Ihr ins Maul geschaut, ihre Fesseln und Hufe betastet. Doch als sie den Preis hörten, den Vater verlangte, schüttelten sie nur den Kopf und gingen weiter.
Einige der Käufer waren verärgert und schimpften laut. Einer von ihnen schrie Vater an, dass er für diesen Preis einen Vollbluthengst bekommen würde. Drohend hatte er die Faust geschüttelt und Vater einen Träumer genannt, der sich wieder in die Wüste scheren sollte, wo er hergekommen war.
Als er jedoch die drohenden Blicke von Jakob und Hesekiel bemerkte, suchte der Fremde schnell das Weite.
In mir keimte ein Fünkchen Hoffnung auf. Was wenn Vater Selina doch nicht verkaufen wollte. Weshalb hätte er den Preis sonst so hoch ansetzen sollen?
Jedes Mal, wenn ein Käufer unverrichteter Dinge wieder abziehen musste, stieg meine Stimmung, und ich wurde zusehends froher. Die Schatten wurden länger und es würde nicht mehr lange dauern, bis der Markt geschlossen wurde. Meine Onkel bedrängten meinen Vater den Preis zu senken, damit sich endlich ein Käufer für Selina entscheiden konnte. Doch Vater schüttelte nur den Kopf. „Wenn wir sie für diesen Preis nicht verkaufen können, nehmen wir sie eben wieder mit!, sagte er ruhig. Ich hätte jubeln mögen, als ich Vaters Worte hörte.
Gegen Abend blieb ein Mann vor der Eselin stehen, prüfte sehr sorgfältig ihre Fesseln und schaute ihr sogar zweimal in das Maul, um anhand ihres Gebisses ihr Alter schätzen zu können. Schließlich fragte er nach dem Preis. Vater nannte die Summe. Der Mann wog bedächtig sein Haupt. Dann schüttelte auch er den Kopf und wollte sich entfernen. Als ich schon erleichtert aufatmen wollte, wandte der Mann sich um, sah sich Selina noch einmal genauer an und sagte dann: „Nun gut! Ich will den Preis bezahlen, obwohl er viel zu hoch ist. Ich brauche einen Esel. Die anderen, die ich sah, taugten alle nicht viel!“
„Welche Arbeit soll die Stute verrichten?“, fragte Vater. Der Mann strich seinen Bart glatt und antwortete: „Ich bin Besitzer einer Karawanserei und brauche den Esel zum Wasser schöpfen!“ Mein Herz krampfte sich zusammen, als ich das hörte. Tränen, die ich schon so lange zurückgehalten hatte, liefen über mein Gesicht. Mit einem Schrei, der einen Stein hätte erweichen können, rief ich: „Nein Vater, bitte nicht! Selina soll ihr ganzes Leben mit verbundenen Augen im Kreis laufen und Wasser schöpfen? Verkauf sie nicht Vater, ich bitte dich! Verkauf sie nicht!“ Ich fiel nieder und umklammerte flehend seine Knie. Der Käufer fragte Vater fassungslos: „Warum willst du den Esel verkaufen, wenn dein Sohn ihn doch so sehr liebt?“ Vater berichtete von unserer Notlage.
Der Mann hörte schweigend zu und sagte dann: „Mich dauert dein Sohn. Doch ich verstehe auch deine Beweggründe. Es hilft nichts, ich brauche einen Esel, sonst werden die Kamele meiner Gäste und meine Gäste selbst dürsten. Ich werde dir deshalb ein Angebot machen. Was hältst du davon, wenn ich dir das Geld leihen werde, dass du für den Esel verlangtest? Ich behalte die Stute solange als Pfand, bis die Summe bezahlt wurde. In einem Jahr kannst du sie bei mir wieder einlösen. Bist du damit einverstanden? Du kannst sicher sein, dass ich die Eselin gut behandeln werde!“
Vater sah mich lange an. Dann wandte er sich wieder dem Mann zu. „Dein Vorschlag ehrt mich Fremder und ich werde ihn annehmen, denn deine Worte sind weise. Aber sage mir, warum tust du das alles für uns? Wir kennen uns nicht. So handelt doch nur einer seinem Bruder gegenüber!“ Da antwortete der Besitzer der Herberge: „Liebe Gott über alles und deinen Nächsten wie dich selbst. Wer sonst wäre mein Nächster, wenn in diesem Augenblick nicht du?“ Vater war erstaunt und schüttelte immer wieder den Kopf. „So etwas habe ich noch nicht erlebt. Wer hat diese Worte gesprochen?“ Der Mann lächelte. „Diese Worte lehrte mich ein Wanderprediger, der mit seinen Vertrauten in meiner Herberge übernachtete. Er heilte meine Tochter von einer schweren Krankheit und dafür werde ich ihm danken bis in alle Ewigkeit.“ Vater trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. „Deine Worte beeindrucken mich! Vielleicht werde ich diesen Wanderprediger einmal kennenlernen!“ Der Fremde verneigte sich. „Das wirst du eines Tages mit Bestimmtheit!“, sagte er und lächelte geheimnisvoll.
Ich stand zitternd neben Selina und hielt den Hals der Eselin mit beiden Armen umschlungen. „Schäm dich nicht deiner Tränen!“, flüsterte der Fremde. „Ich verstehe deinen Schmerz. In einem Jahr wirst du deine Selina wiedersehen!“ „Behandle sie gut!“, bat ich schluchzend. Der Fremde hielt mir die Hand entgegen: „Du kannst dich darauf verlassen Josef!“ Dann ging er, die Eselin am Strick führend, in Richtung seiner Karawanserei davon. Selina folgte ihm bereitwillig. „Wo werden wir dich finden?“, rief Vater dem Mann nach.
Der Fremde drehte sich noch einmal um: „Fragt nach der Herberge des Lazarus!“, rief er. Dann verschwand er mit Selina im Menschengewühl.
Ein Jahr war vergangen. Ein Jahr voller Sorgen und Nöte. Ich hatte oft an Selina gedacht, doch die Hoffnung sie wiederzusehen versüßte mir den Schmerz der Trennung. Die Herde hatte sich in ihrem Bestand erholt. Schafe und Ziegen vermehrten sich fleißig, sodass ihre Zahl fast doppelt so hoch war, wie vor der Katastrophe. Alle waren zufrieden mit dem, was geschaffen worden war.
Eines Morgens rief Vater mich zu sich und sagte: „Wir werden nach Jerusalem gehen und Vieh verkaufen!“ Einen Moment lang war ich sprachlos vor Freude. Natürlich hatte ich gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Trotzdem fragte ich nach: „Werden wir Selina auslösen Vater?“ Er ließ sich, wie üblich, Zeit für eine Antwort. Dann sagte Vater ruhig: „Wenn wir genug für das Vieh bekommen haben, werden wir deine Eselin holen.“
Ich küsste meinem Vater voller Dankbarkeit und Freude. „Morgen ziehen wir los!“, rief ich und rannte hinaus in die Weite der Wüstenlandschaft. Laut jubelnd schrie ich meine Freude hinaus, bis ich vor Erschöpfung und Glück ruhig wurde und mit den Gedanken die weite Reise, bis vor die Tore Jerusalems, bereits hinter mir hatte.
Drei Wochen später hatten wir unser Ziel erreicht. Es war Frühling geworden. Das Passahfest, das mit dem Erscheinen des ersten Frühlingsvollmondes zusammenhängt, stand bevor. Die Stadt wimmelte von Menschen. Ich hatte jedoch diesmal kein Auge für das bunte Treiben, sondern wollte mich gleich nach unserer Ankunft nach der Karawanserei des Lazarus durchfragen. Vaters ermahnende Worte im Ohr, machte ich mich auf den Weg. Nach einigen Umwegen gelangte ich endlich an das Tor zur Herberge.
Neugierig lugte ich in den Hof der Karawanserei. Dort lagerten Dutzende Kamele, die entweder dösend und friedlich wiederkäuend, von ihrer Last befreit, am Boden lagen oder gerade unter lauten Zurufen ihrer Treiber, entladen werden sollten. Zumeist handelte es sich um zentnerschwere Salztafeln, die von den Tieren vom Toten Meer bis hierher geschleppt worden waren. Salz war ein kostbares Gut, mit dessen Hilfe Lebensmittel haltbar gemacht werden konnten, damit sie nicht vorschnell durch die bald hier herrschende Sommerhitze, verdarben. Aber auch andere Waren, wie Weihrauch aus dem Libanon oder kostbare Stoffe aus Samarkand waren auf den Rücken der Lasttiere transportiert worden.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und betrat den Hof der Karawanserei. Ich suchte nach dem Brunnen, aus dem Selina Tag für Tag, Wasser schöpfen musste. Bald hatte ich ihn gefunden doch von Selina war weit und breit nichts zu sehen. Ratlos stand ich einige Zeit da. Mein Herz war schwer. Was ist mit Selina? Ist sie krank geworden? Oder ist sie gar …!!! Ich wagte es nicht den Gedanken zu Ende zu denken und konnte auch nicht verhindern, dass mir aufkommende Tränen den Blick verschleierten.
„Wem suchst du?“, fragte mich ein freundlich lächelnder Mann, zu dem ich sofort Vertrauen fasste. Ich hatte das Gefühl als würden seine Augen bis in die tiefsten Tiefen meiner Seele und meines Herzens blicken können. Für einen winzigen Augenblick wurde mir schwindelig. Dann antwortete ich: „Selina! Hast du meine Selina gesehen? Meine Eselin, die hier am Brunnen Wasser schöpfen sollte. „Erzähl mir von ihr!“, bat der Mann und ich redete mir meinen ganzen Kummer vom Herzen.
Als ich meine Erlebnisse, angefangen von Selinas Geburt bis hin zu jenem Augenblick an dem ich an diesem Brunnen stand, erzählt hatte, sagte der Fremde: „Komm Josef. Ich werde dir deine Selina zeigen!“Er nahm meine Hand und führte mich zu einem Stall. Im Innern stand sie - Selina - festlich geschmückt mit Blumen und bunten Bändern. Ihr weißes Fell glänzte, als wäre es aus Seide. Ich sah sofort, dass es ihr hier nicht schlecht ergangen war. Man hatte sie gut behandelt. Ungläubig sah ich den Fremden an. Der lächelte wieder und sprach: „Selina wird morgen den König der Könige in seine Stadt tragen. Er wird zum Zeichen seiner Macht einen Palmenzweig in den Händen halten. Mit Palmzweigen wird man ihm huldigen. Über Palmzweige und wertvolles Tuch werden die Hufe deines Esels traben. ER hat einen Esel, zum sichtbaren Zeichen seiner Bescheidenheit und Demut gewählt. ER unser aller Erlöser. Die Völker der Welt werden bis in die fernsten Zeiten diesen Tag ehren!“
Ich war sprachlos vor Glück. Ich hatte es doch schon immer gewusst! Selina war etwas Besonderes. „Darf ich dabei sein? Oh bitte, lass mich dabei sein!“, bettelte ich.
„So soll es sein!“, sprach der Fremde. „Du wirst neben IHM im Festzug gehen und den Esel führen, danach wird Selina dir wieder ganz gehören!“
Ich habe jenen Tag nie vergessen können. Selina war folgsam wie ein Lämmchen gewesen. Ich hatte das Gefühl, das sie genau wusste, wohin sie ihre Hufe zu setzen hatte. Völlig ruhig war sie durch die laute Menschenmenge gegangen. So als hätte sie gewusst, wen sie da auf ihrem Rücken tragen würde.
Ich hatte die folgende Nacht bei Selina im Stall verbracht. Bei Sonnenaufgang wurde ich wach und bemerkte, dass der Mann der in Jerusalem wie ein König gefeiert worden war, mit seinen Begleitern die Herberge verlassen wollte. Schnell sprang ich auf, lief über den Hof und warf mich vor ihm nieder, um ihm zu danken. Sanft half er mir auf und sah mich lange an. In diesem Moment fühlte ich für einen winzigen Augenblick, wie mein Inneres mit ihm verschmolz. Wärme durchpulste mich und füllte mein Herz. Ich spürte tiefe Zuneigung, Liebe und eine große Glückseligkeit. Er nahm mich in den Arm und wies nach Norden. „Geh Josef und gib den Funken, den ich dir ins Herz senkte, weiter!“ Dann sah er mich noch einmal aus seinen unergründlich wirkenden, tiefblauen Augen an, strich mir zum Abschied über das Haar, und ging davon, gefolgt von seinen Begleitern. Zwei Tage später verließen wir Jerusalem und wanderten weiter nach Norden. An den Jordan wollten wir unser Vieh führen, wie jedes Jahr um diese Zeit, damit es an den grünen Flussauen weiden und sich satt trinken konnte.
Im Jahr darauf brachte Selina ein gesundes Fohlen zur Welt.
„Sieh nur Vater“, rief ich, als es endlich auf seinen noch zitternden Beinen stand. „Wie kräftig das Fohlen ist. Selina hat einen kleinen Hengst geboren. Es ist ebenso weiß wie seine Mutter. Doch was ist das? Was hat es nur für eine merkwürdige Zeichnung auf Schultern und Rücken? Es gleicht einem … einem Kreuz. Wie ist das nur möglich?“
Vater besah sich das Fohlen und schwieg lange, bevor er antwortete: „Selina hat den König der Könige auf ihrem Rücken getragen. Ihr Fohlen trägt sein Zeichen!“
Seit jener Zeit brachte Selina jedes Jahr ein Fohlen zur Welt. Alle von ihr geborenen Füllen trugen SEIN Zeichen, dass sich vom Hals abwärts, über Schultern und Rücken zog, und gaben es an ihre Nachkommen weiter.
Schon beim ersten Lesen des Dokumentes war mir, als würde ich Josefs Geschichte selbst erlebt haben. Auch das Gefühl, dass er beschrieb. Dieses warme Gefühl im Herzen, das einem ganz ausfüllen kann, war mir nicht fremd. Ich wollte nie etwas von dem wissen, was man allgemein Religion nennt. Schon gar nicht von Begriffen wie Inkarnation - Wiedergeburt. Doch ich spüre, dass mein, wie ich glaubte, unverrückbar fest gefügtes Weltbild Risse bekommen hat. Risse, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit verbreitern. Irgendetwas in meinem Innern will sich mit aller Macht Bahn brechen. Etwas will sich befreien aus seinem uralten Gefängnis. Mir ist so, als würden alte, zähe Krusten aufbrechen.
Schon seit den Tagen meiner Kindheit, träumte ich immer wieder denselben Traum. Die Sonne ist untergegangen und ich sehe einen Jungen im gestreiften Kaftan. Eine runde, weiße Kappe bändigt kräftiges, dunkles Haar. Der Junge führt eine weiße Eselstute am Halfter, der ein Füllen folgt. Hinter der schneeweißen Eselin und ihrem Fohlen weidet eine riesige Eselherde. Die Tiere tragen ein Zeichen. Ein Kreuz zieht sich vom Hals abwärts, über die Schultern und Rücken. Der Junge dreht sich herum und bemerkt mich. Er lächelt mir zu und deutet zum Himmel, der vom Mond und unzähligen Sternen erleuchtet ist. Das Kreuz des Nordens, der Polarstern, steht geheimnisvoll funkelnd, hoch oben am samtschwarzen Firmament. Er deutet zum Horizont und ich sehe einen hell leuchtenden Stern, dessen obere und untere Spitzen Himmel und Erde verbinden. Der Junge öffnet seinen Mund und ich höre seinen Ruf: „Geh nach Norden!“
Nun ist es an der Zeit, dass ihr meinen Namen erfahrt. Ich, Dr. Emmanuel José Cristobal de la Cruz, wurde als Sohn eines armen Viehhirten im Schatten der Anden geboren.
Re: Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen wollen!
So schön, vielschichtig und tiefsinnig!!! Danke Hans-Peter. Ein wunderbares VATER-Bild ist hier gezeichnet, von einem Liebe-erfüllten SOHN, zur Hoffnung und Bestärkung aller Esel. "Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eures VATERS. Bei euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt. Fürchtet euch also nicht! Ihr seid mehr wert als viele Spatzen." (Matth. 10,29 - 31)
Was ist aber mit jenen, die sich angeblich nicht fürchten, sondern auf das zerstörerische Unwetter geradezu hoffen? Sind das jene, die von den Fluten des Unwetters ins Wadi gezerrt und mitgerissen werden? - Wer auf das Gericht setzt, den ereilt das Gericht..., wer auf Rettung hofft, dem wird Rettung?
Re: Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen wollen!
Beim Hemden-Bügeln sinnierte ich gerade eben der obigen Geschichte nach. Da kommt die Frage hoch, warum es am Schluss der Geschichte heisst: „Geh nach Norden!“
Zeigt der Norden nicht das Reich des Verstandes an? Passt das wirklich? Hans-Peter, wie erklärst du dir den Norden? - Oder schenkt mir jemand anderer einen Hinweis?
Do, 8. Nov 2012 um 17:59 MEZ
von Hans-Peter
Re: Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen wollen!
Liebe Frieda
Der Norden steht sinnbildlich für oben, der Süden für unten. Leuchtet mir jedenfalls so ein. Ich schreibe immer so, wie ich es innerlich sehe.
Danke für Deine freundliche Kritik.
Bis bald.
Hans-Peter
Der Norden steht sinnbildlich für oben, der Süden für unten. Leuchtet mir jedenfalls so ein. Ich schreibe immer so, wie ich es innerlich sehe.
Danke für Deine freundliche Kritik.
Bis bald.
Hans-Peter
(Zuletzt bearbeitet am Samstag, 10. November 2012 um 17:38 MEZ)
Re: Reiß die Mauern in deinem Innern nieder, die dich von mir trennen wollen!
Guten Abend Hans-Peter
Der Ruf, nach Norden, also ins Reich des Verstandes zu gehen, ist völlig stimmig!
Zitat:
"Irgendetwas in meinem Innern will sich mit aller Macht Bahn brechen. Etwas will sich befreien aus seinem uralten Gefängnis. Mir ist so, als würden alte, zähe Krusten aufbrechen."
Wessen Panzer geborsten ist und dessen Herz frei ist, ist doch gerufen, seine Liebe ins Reich des Verstandes (der Kopf ist oben) bzw. in die bewusste Welt einzubringen.
Nochmal: Diese Geschichte ist wunderschön, reich an Weisheiten und lehnt an die Bibel an. Ganz offensichtlich stammt sie aus deinem Innern, Hans-Peter; fast möchte ich sagen: das hat dir nicht dein Fleisch gegeben... :-)
Ich freue mich, die Geschichte noch einmal ganz obenan zu setzen, damit auch neue Forumsbesucher sie nicht verpassen.